Alles kommt wieder: Warum wir uns nach Retro und Vintage sehnen.

Dürfen wir spielerische, gefällige Designelemente der Vergangenheit wiederbeleben, ohne die schmerzhafte Wahrheiten jener Epochen zu bedenken?

Nostalgie, die den Menschen in Krisenzeiten ein gutes Gefühl gibt, hat gerade in allen Designdisziplinen Hochkonjunktur. Deshalb gehen wir der Frage nach, was diesen Trend antreibt und welche Probleme mit der Wiederbelebung historischer Designelemente verbunden sind.

In den letzten ein bis zwei Jahren hat sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens eine Rückbesinnung breit gemacht: in Mode und bei Möbel, im Markendesign oder in der Musik, die wir streamen (Spotify: Top Throwbacks of 2021). In den beunruhigenden zwei Jahren, wie es viele von uns empfunden haben, war zu beobachten, dass Werbung und Design ein Gefühl der Geborgenheit schaffen wollten, indem sie das Vertraute neu erfanden. Die Wissenschaft bestätigt das. Psychologen haben herausgefunden, dass die Erinnerung an Vergangenes den Menschen dabei hilft, Krisen zu überstehen.

Wie Antiquitätensammler begeistern sich Designerinnen und Designer für historische Logos, alte Bücher, Poster und Plattencover. Sie zollen diesen Objekten Tribut, indem sie deren Ideen aufgreifen. Wie viele Schriften wurden in jüngerer Zeit durch Texte aus einem alten Buch inspiriert, auf das man in einem Antiquariat stieß, oder durch eine Postkarte, die man auf einem Flohmarkt erstand? Auf diese Art feiern wir Designikonen und Epochen, sei es in einem Logo, mit einem Plakat oder in unserem Zuhause.

Auch Monotypes jüngste Studio-Veröffentlichung, eine moderne Serif namens Cotford, entworfen vom Creative Type Director Tom Foley, hat einen nostalgischen Touch. „Cotford spiegelt eine Sehnsucht wider, die viele Menschen während des Höhepunkts der Lockdowns empfunden haben: die Sehnsucht nach Vertrautem und ein bisschen Wärme inmitten der Ungewissheit.“

Der Nervenkitzel einer Entdeckung.

Außerhalb von Schrift- und Grafikdesign hat der Vintage-Stil in den Bereichen Möbel, Heimtextilien und Mode an Popularität gewonnen. Das Ritual, ein vergessenes Stück Geschichte wiederzuentdecken und ihm in der modernen Welt einen neuen Platz zu geben, sorgte in der Pandemie für Ablenkung und verbreitete sich über Social-Media-Kanäle genauso wie durch Secondhandshops à la Kleiderkreisel (seit November 2021: Vinted) oder Momox.

Modetrends waren schon immer zyklisch. Doch laut ThredUp, einem Online-Wiederverkäufer, hat sich der Gebraucht-Handel in den letzten Jahren zu einer 36-Milliarden-Dollar-Industrie entwickelt, die 2025 das Fast-Fashion-Business überholen könnte. Das Thema Nachhaltigkeit ist der Grund dafür, dass sich hauptsächlich jüngere Verbraucher für Secondhand statt für H&M entscheiden. Die Pandemie hat außerdem in fast allen Branchen zu Problemen bei der Lieferkette geführt, sodass viele Kunden die sofortige Befriedigung auf dem Trödelmarkt dem Warten auf einen verspäteten Versand von Neuware vorziehen.

Die Jagd nach Vintage-Perlen erstreckt sich auch auf die Welt des Wohnens, wie der Fotograf Tyler Haughey in unserem Podcast berichtete. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit visuellen Signalen, wie alte Schilder oder Ornamente, und untersucht, wie sie Erinnerungen oder Erfahrungen in unserem Gedächtnis verankern. „Die Erinnerungen sind anfangs sehr vertraut, nah und greifbar“, sagte Haughey. „Später dann, wenn man sich weiter entfernt, werden sie irgendwie seltsam und nehmen diesen Moment des Fantastischen an. Es liegt wohl im Wesen der Erinnerung, dass sie mit der Zeit immer unspezifischer wird.“

Alle diese Phänomene, ob gerundete Schriften im Stil der 70er-Jahre, weichgezeichnete Fotos untergegangener Strandmetropolen, ausrangierte Jeans oder antike Möbel, dienen als Auslöser für das Erzählen von Geschichten und die Wiederbelebung der Vergangenheit. In unserem Schrifttrend-Report 2021 haben wir erstmals den Trend der „Weichzeichner-Serif“ festgemacht, nachdem diese Art nostalgischer, Cooper Black-beeinflusster Schriften in den Rebrands von Chobani (InHouse), MailChimp (Collins), Meridian (BulletProof), Dunkin und Burger King (JKR) aufgetaucht sind. Nach einem weiteren Jahr der Pandemie zeigt sich dieser Trend immer noch stark, mit verspielten Schwüngen, abgerundeten Serifen, skurrilen Buchstaben und lebhafter Farbgebung.

Diversität historisch interpretieren

Schwierig wird es allerdings, wenn man die Wertschätzung für historische Designelemente von dem manchmal unangenehmen sozialen Kontext trennt, vor dem sie entstanden sind. In unserer Begeisterung für Nostalgie – gepaart mit einer rosaroten Brille – neigen wir dazu, die Rosinen herauszupicken und ignorieren Sexismus, Rassismus und soziale Ungleichheit. „Wir sagen einfach: ‚Ja, da gab es mal eine Zeit, in der weiße Männer Baseball spielen durften‘“, sagte Charles Nix, Creative Director bei Monotype, in einem Print Mag-Interview über die zu kurz gedachten Argumente zum Aufleben der Retro-Sporttrikots.

Wie können wir spielerische, gefällige Designelemente der Vergangenheit aufgreifen, ohne die schmerzhaften Wahrheiten jener Epochen zu ignorieren?

Um zurück auf. das Thema Schrift zu kommen … Tré Seals, Gründer und Inhaber von Vocal Type, setzt Schriften auch als Mittel zur Geschichtsbetrachtung ein. Alle Vocal-Schriften sind von historischen Ereignissen wie Demonstrationen und Protestbewegungen geprägt und nach prominenten Verfechtern für soziale Gerechtigkeit benannt, darunter Marsha P. Johnson, Martin Luther King und Bayard Rustin.

 

Als schwarzer Designer, der sich in der Branche nicht vertreten sah, hat Seals über den Mangel an Vielfalt im Design gesprochen und darüber, wie dieser seine Karriere beeinflusst hat.
 

Im März 2016, als ich ziellos durch Schriften scrollte, während ich eine neue visuelle Identität für eine Immobilienagentur entwarf, war ich einfach nur gelangweilt“, sagte Seals in einem Interview auf It’s Nice That. „Alles, was ich sah, egal wie gut, sah gleich aus. Man könnte argumentieren, dass es an der Obsession für Raster und Perfektion liegt. Aber die Wahrheit ist, dass keine Kultur, kein Charakter zu erkennen war … nur Monotonie und Stereotypen. Obwohl Design meine Leidenschaft ist, begann ich mich zu fragen, ob ich den falschen Beruf gewählt hatte.“

Bei seiner beruflichen Gewissensforschung dachte Seals über die negativen und positiven rassistischen Erfahrungen nach, die er am Arbeitsplatz gemacht hat. Er dachte auch an die Bürgerrechtler und den Stolz, den er empfand, als er von ihrer Rolle in der Geschichte erfuhr.

Da wurde mir klar, dass Typografie mehr sein kann als ein Design-Baustein: Sie kann der Ausdruck von Bildung und für das Erzählen von Geschichten sein, wie die, die ich Ihnen gerade schildere.

Tré Seals.

Diese Erkenntnis veranlasste Seals dazu, mit Vocal Type hauptberuflich an der Gestaltung neuer Schriften zu arbeiten. Inzwischen sind seine Entwürfe das typografische Aushängeschild vieler Black Lives Matter-Wandbilder und -Protestschilder, von Ausstellungen, zahlreicher Non-Profit-Organisationen, redaktioneller Beiträge und sogar des neuen Buchs von Spike Lee. Und als direkte Folge eines historischen Ereignisses, der Ermordung von George Floyd, hat Seals auch eine zunehmende Verwendung seiner Entwürfe im Branding festgestellt, was sich mit der Mission von Vocal Type deckt. Der Einsatz seiner Schriften in einer breiten Palette von Markenidentitäten ist die Mainstream-Präsenz, auf die Seals jahrelang gehofft hat: „Das unterstreicht für mich die Hauptanliegen von Vocal Type: die Diversifizierung des Designs.“

Während Nostalgie jahrzehntelang als Geißel angesehen wurde, kann sie – richtig eingesetzt – als Unterscheidungsmerkmal im Design dienen oder dieses kuschelige Gefühl der Erinnerung vermitteln, nach dem wir uns sehnen. Charles Nix hat es in seinem Interview im Print Mag gut zusammengefasst: „Die Art und Weise, wie wir [Nostalgie] heute nutzen, ist fast derselbe Grund, warum wir beim Fernsehen zu Chips oder Color-Rado greifen: Es fühlt sich vertraut an. Solche Naschereien erlauben uns, für einen Moment zu entfliehen. Daran ist nichts Schädliches. Doch was uns kollektiv und individuell wirklich voranbringt, ist die Auseinandersetzung mit den Dingen, die in unserer Welt fehlen. Und nur das Gestalten – sei es Grafik, Produktdesign oder einfach nur die Gestaltung unseres Lebens – in Richtung eines Ideals, das vielleicht in der Vergangenheit wurzelt, aber trotzdem nach vorne schaut, auf das, was wir hinterlassen werden, bringt uns weiter.“


Wenn Sie mehr über Tré Seals und seine Arbeit mit Vocal Type erfahren möchten, hören Sie sich die folgende Episode in unserem Creative Characters-Podcast an:

Check out the episode.

Alles kommt wieder: Warum wir uns nach Retro und Vintage sehnen.
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