Hesse Antiqua™ zum 100. Geburtstag

Hesse Antiqua
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Gudrun Zapf von Hesse, geboren am 2. Januar 1918, ist eine Frau mit vielen Talenten. Zuallererst – so würde sie sagen– ist sie eine gelernte Buchbinderin. Sie war aber auch als Schriftkünstlerin tätig, hat viele grafische Arbeiten geschaffen – und sie ist eine Schriftentwerferin. Zu ihrem 100. Geburtstag, erscheint diese Woche bei Monotype ein Alphabet, das sie schon vor 70 Jahren entworfen hat: Hesse Antiqua™. Ferdinand Ulrich erzählt von Ursprung und Digitalisierung der Schrift. Read English Version … 

In den Wirren des Nachkriegsdeutschlands konnte sie nicht mehr in ihr Elternhaus in Potsdam zurückkehren. So zog Gudrun Zapf von Hesse Ende 1945 in eine hessische Kleinstadt. Ausgestattet mit einer Mappe stellte sie sich bei der Bauerschen Schriftgießerei in Frankfurt am Main vor. Dessen Direktor Georg Hartmann höchstpersönlich gab ihr die Möglichkeit eine eigene Buchbinderwerkstatt einzurichten und dort auch externe Aufträge zu erledigen. Bei Bauer lernte GZvH den künstlerischen Leiter Heinrich Jost und den Schriftentwerfer Konrad F. Bauer kennen, von denen sie viel über den Herstellungsprozess von Bleischriften erfuhr. Ihr freundliches Wesen und ihre Fertigkeiten wurden sehr geschätzt. Jost lobte sie als „perfekte Buchbinderin“ (in einem Empfehlungsschreiben vom 24. Februar 1947).

Eines Tages fasste sich GZvH ein Herz und stattete den Schriftschneidern einen Besuch ab. Zu dieser Zeit wurde das Schriftschneiden nicht von Frauen ausgeübt, und wenn es doch Ausnahmen gab waren sie bemerkenswert. Das Spiegelbild eines Buchstabens in einen bis zu 6 Zentimeter hohen Stahlstempel zu gravieren, ist der erste Schritt zur Herstellung von Bleibuchstaben. Es war ein akribischer Prozess, der kräftige Hände erforderte, um die Form eines Buchstabens mit Sticheln, Feilen und manchmal auch mit Gegenformen herauszuarbeiten. Der fertige Stempel erlaubte danach den Abdruck in einem weicheren Metallblock (meist aus Kupfer oder Eisen), der schließlich als Gießform diente. Im Wesentlichen dient diese Form (Matrize oder Mater) dem Schriftgießer als Vorlage für die Bleikegel.***

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Abbildung 1, links: Bleibuchstaben wurden in einem aufwändigen Prozess hergestellt: von dem geschnittenen Stahlstempel zu der daraus eingeprägten Matrize (oder Mater), die als Gussvorlage für die Bleilettern dient. Rechts: Ein Stempelschneider mit seinem Werkzeug in der Schriftgießerei Bauer. Beide Abbildungen stammen aus Konrad F. Bauer: Wie eine Buchdruckschrift entsteht, Frankfurt/Main, 1950er Jahre (aus der Sammlung von Thomas Maier, Berlin).

GZvH interessierte sich allerdings weniger für einen vollen Setzkasten, sondern für das Schneiden von Stempeln, die sie mit Holzgriffen versehen zum Vergolden von Titelbeschriftung auf Buchdeckeln und Buchrücken aus Leder verwenden konnte. Dafür wollte sie ihren eigenen Schriftentwurf ins Spiel bringen. Unter der Anleitung des Stempelschneiders Josef Spahn lernte GZvH mit verschiedenen Gravierwerkzeugen und mit viel Geduld Buchstaben aus Messing zu formen (eine Stempelschrift für ihre Zwecke musste nicht in Stahl geschnitten werden). Ohne große Vorkenntnisse begann sie ihr eigenes Versal-Alphabet sowie die dazugehörigen Ziffern und ein paar wenige geometrische und figürliche Ornamente in 36 Punkt zu schneiden, eine amtliche Titelsatzgröße. Laut GZvH entstanden weder Probebuchstaben, noch mussten Zeichen ein zweites Mal geschnitten werden.

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Abbildung 2, links: Das Werkzeug mit dem Gudrun Zapf von Hesse 1946 die Messingstempel anfertigte, hat sie bis heute aufgehoben (fotografiert vom Autoren in der Werkstatt von GZvH). Rechts: Mit Holzgriffen versehen, dienten die Buchstaben der Buchbinderin über Jahrzehnte als Werkzeuge zum Vergolden von Schriftzügen auf Bucheinbänden (fotografiert von Norman Posselt).

Dezente Kontrastverschiebungen und natürlich die handgeschliffene Natur verleihen diesem Alphabet eine spezielle Lebendigkeit.

GZvHs erster Kontakt mit der Welt des Schriftentwerfens waren autodidaktischer Natur, mit Büchern von Edward Johnston und Rudolf Koch. Erst viel später (1941) besuchte sie an der Meisterschule für Graphik und Buchgewerbe in Berlin den Schriftunterricht von Johannes Boehland. Das Ergebnis ihres 1947 fertig gestellten Schriftschnitts ist ein Kind seiner Zeit: Serifenlose Buchstabenformen mit ordentlichem Kontrast und leichter Betonung der Strichenden. Dezente Kontrastverschiebungen, besonders hervorzuheben im S und natürlich die handgeschliffene Natur verleihen diesem Alphabet eine spezielle Lebendigkeit.

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Abbildung 3: Eine seltene Darstellung der Hesse Antiqua: Schwarz auf Weiß. Bei diesem Rußabdruck wurden die Stempel in eine offene Flamme gehalten und die Buchstaben auf ein Blatt Papier übertragen (Fotografiert von Norman Posselt, aus der Sammlung von GZvH).

Die Buchstaben wurden erstmals für den Titelsatz eines Jahrbuchs verwendet, das die Bauersche Schriftgießerei anlässlich des 75. Geburtstages von Georg Hartmann herausbrachte (1946 gedruckt, 1947 gebunden). Der Name auf dem Umschlag und dem Rücken ist goldgeprägt, eine Spezialität von GZvH. In den folgenden Jahren produzierte sie weitere vergoldete Schriftzüge auf Buchrücken sowie Blindprägungen. Das Alphabet wurde zu ihrer exklusiven Hauschrift für besondere Anlässe.

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Abbildung 4: Die Hesse Antiqua wurde erstmals für die Goldprägung des Buchumschlags einer Jubiläumsveröffentlichung zum 75. Geburtstag von Georg Hartmann verwendet, die von der Gießerei Bauer gedruckt und 1947 veröffentlicht wurde (Foto von Norman Posselt aus der Sammlung des GZvH).

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Abbildung 5: Handvergoldungen auf Kalbspergament mit Messingstempeln gehören zu den Spezialitäten von GZvH. „Der Nachtigallenbaum“ ist ein bekanntes Werk, das mit Hesse Antiqua erstellt wurde. (Fotografie von Norman Posselt)

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Abbildung 6: Die Präambel zur Charta der Vereinten Nationen hat GZvH aus der Hesse Antiqua in dickes aber weiches Papier blindgeprägt (Fotografie von Norman Posselt

Jahre später verlieh ihr Ehemann Hermann Zapf der Schrift den Namen „Hesse Antiqua“, unter Berücksichtigung ihres Mädchennamens. Hermann Zapf und Günter Lepold, der damalige Direktor der D. Stempel AG, entdeckten 1948 auf einer Ausstellung einige ihrer Schreibarbeiten. Drei Jahre später erschien einer dieser Entwürfe als Diotima, GZvHs erste veröffentlichte Schrift. Es folgten neun weitere Schriften für den Blei-, Foto- und Digitalsatz, die bei Stempel, Berthold, Bitstream und URW veröffentlicht wurden. Nach 70 Jahren erscheint nun ihr allererster Entwurf, Hesse Antiqua™, komplett und digital.

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Abbildung 7: 1951 erschien Gudrun Zapf von Hesses erste veröffentlichte Schrift Diotima bei der Schriftgießerei D. Stempel. 1953 folgten die Initialen zur kursiven Diotima als Ariadne sowie die dünne Versalschrift Smaragd (Fotografie von Norman Posselt)

Nach 70 Jahren erscheint nun ihr allererster Entwurf, Hesse Antiqua, komplett und digital.

Hesse Antiqua™, die digitale Fassung

Die digitale Hesse Antiqua™ ist das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen und Entscheidungen, die eng mit Gudrun Zapf von Hesse abgestimmt wurden. Während sie die Schriftgestalterin ist, beschäftigte ich mich mit der Rolle eines »digitalen Schriftschneiders«. Der Font, den wir heute auf den Markt bringen, ist kein Revival, sondern die Verwandlung des Hesse-Antiqua-Alphabets in eine Schrift – unter Berücksichtigung von 70 Jahren Schrifttechnologie zwischen Entwurf und Veröffentlichung.

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Abbildung 8: Seit beinahe drei Jahren beschäftigt sich der Autor mit dem Werk von GZvH. Die Entstehung der Hesse Antiqua war bei vielen Begegnungen ein beliebtes Gesprächsthema (fotografiert von Norman Posselt, auf einer der vielen Reisen nach Darmstadt).

Seit GZvH mir am ersten Frühlingstag 2015 ihre Messingstempel präsentierte, habe ich mit dem Gedanken gespielt mit ihr die Hesse Antiqua™ in eine Schrift zu verwandeln. Eine große Herausforderung stellten die verschiedenen Erscheinungsformen unter wechselnden Perspektiven dar: frühe Zeichnungen, Stempel, Rußabzug, Blindprägung, Handprägung mit Goldfolie. Welche davon sollte als Vorbild für eine Neuzeichnung für den digitalen Satz dienen? Es schien, dass GZvH beim Prozess des Buchstabenschneidens in Messing einige Details aus den frühen Zeichnungen außer Acht gelassen hat. Die so entstandenen Stempel sind eine verlässliche Referenz für die Proportionen und Details der Buchstabenform, aber die Stempel »in Aktion« und die resultierenden Ergebnisse scheinen ihren Absichten näher zu kommen. GZvH wusste, dass die Buchstaben beim Prägen einiges von ihrem Kontrast verlieren würden – besonders wenn Farbe im Spiel war.

Seit GZvH mir am ersten Frühlingstag 2015 ihre Messingstempel präsentierte, habe ich mit dem Gedanken gespielt mit ihr die Hesse Antiqua in eine Schrift zu verwandeln.

Bei der Digitalisierung sind die vielen Erscheinungsformen der Hesse Antiqua™ in meine Überlegungen eingeflossen: frühe Zeichnungen sind interessant, aber erst die geschnittenen Stempel bieten eine verlässliche Referenz für Proportionen, wobei das in Ledereinbände geprägte Schriftbild (in Gold und als Blindprägung) den Absichten von GZvH näher kommt (Fotografien von Norman Posselt, aus der Sammlung von GZvH).

In einer frühen Vereinbarung zwischen GZvH und mir haben wir beschlossen, dass zur Hesse Antiqua™ – nach 70 Jahren – keine Kleinbuchstaben hinzugefügt werden sollten, aber Satzzeichen für die aktuelle Verwendung notwendig sind. Der Font enthält auch einige Ornamenten aus der Messingstempelsammlung von GZvH – so ist der dreiblättrige Ast eine Hommage an ihr bekanntes Druckblatt „Der Nachtigallenbaum“.

Dank Monotypes Designstudio erscheint der Font jetzt auch mit richtigen Kapitälchen und mit zahlreichen Akzenten. Da GZvH keine E-Mail-Adresse hat, unternahm ich im vergangenen Jahr mehrere Reisen nach Darmstadt um den Fortgang des Projekts mit ihr zu diskutieren. Einmal sendete sie mir auch handschriftliche Korrekturen per Post, die sie mittels Deckweiß und Filzstift an den Buchstaben durchgeführt hatte. Die Ziffer 2 war das am meisten diskutierte Zeichen.

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Die Entwicklung der digitalen Hesse Antiqua erfolgte in enger Absprache mit GZvH. Ihrem kritischen Blick entgingen keine Details – so war die Ziffer 2 ein viel diskutiertes Zeichen. (Fotografiert von Norman Posselt, bei einem Treffen in Darmstadt im November 2017).

Mein Freund und Kollege Norman Posselt, ein typophiler Fotograf, der mich bei vielen Besuchen in Darmstadt begleitet hat, fertigte gestochen scharfe Makroaufnahmen von Stempeln und Abzügen an, die als Vorlagen für die Digitalisierung dienten. In der Produktions- und Mastering-Phase hat Bernd Volmer von Monotype meine Daten bereinigt und den ein oder anderen Kurvenpunkt optimiert (wenn ich von „ein oder anderen“ spreche, meine ich eigentlich … jede Menge). Von Akira Kobayashi kam schließlich der Hinweis, alle Spitzen minimal abzurunden um die Wärme der ursprünglichen Hesse Antiqua™ zu konservieren.

Mit Hilfe von Interpolation und Bernds Fähigkeiten im Type Engineering haben wir einen Schnitt geschaffen, der dem Original der Hesse Antiqua™ entspricht, so wie es sich GZvH für einen Ledereinband vorstellte. GZvH hat die Hesse Antiqua™ für eine Größe von 36 Punkt entwickelt und so empfehlen wir, die Schrift nicht viel kleiner einzusetzen. Es ist eine perfekte Schrift für klassische Buchumschläge, aber auch für zeitgenössische Gestaltung gut zu verwenden – und natürlich ist sie für Plakate sehr angemessen.

Bis zuletzt, als ich sie wieder einmal in Darmstadt besuchte, fragte mich GZvH eher ungläubig, ob die Hesse Antiqua™ nach all den Jahren wirklich erscheinen könne. Umso mehr freue ich mich heute, dies an ihrem 100. Geburtstag verkünden zu dürfen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Frau Zapf von Hesse!

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* Eine etwas ausführlichere Biografie liefert der Abschlussvortrag des Autors auf der TYPO Berlin 2016
** Die Informationen über diesen speziellen Prozess bei Bauer stammt aus Konrad F. Bauers Wie eine Buchdruckschrift entsteht, Frankfurt/Main, Ende der 1950er Jahre
*** Dieses Handwerk wird in der Schriftgießerei Rainer Gerstenberg in Darmstadt noch immer praktiziert.

Die englische Originalfassung dieses Artikels wurde im Newsbereich von FontShop.com veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung auf dieser Seite stammt von Jürgen Siebert.